Quanto Basta

Das Rezept

Was soll die Fixierung auf grammgenaue Rezeptangaben? Ein Plädoyer für mehr Mut in der Küche.

Von Mercedes Lauenstein

Nichts gegen grammgenaue Rezepte. Hin und wieder braucht man ausführliche Anleitungen, um der idealen Verarbeitung eines Lebensmittels auf die Spur zu kommen. Oder sich den ein oder anderen Geheimtrick anzueignen. Es ist ein schönes Gefühl, ein Rezept auszuprobieren und dabei zuzusehen wie aus kryptischen Mengenangaben, unübersichtlich vielen Zutaten und Vorbereitungsschritten ein essbares Gericht entsteht.

Ich wundere mich allerdings oft darüber, wie sehr es Menschen verunsichert, wenn in einem Rezept nicht haargenau drin steht, wieviel man von dieser oder jener Zutat nehmen soll. Dass man beim Kochen auf das eigene Gefühl vertrauen darf, scheint vielen gar nicht mehr in den Sinn zu kommen. Weil das Kochen nach strikter Zutatenliste und Mengenangaben nicht unbedingt die Splendido-Art ist, formulieren wir auf dieser Seite selten derlei Angaben in unseren Rezepten. Manchmal sorgt das für Irritation. Neulich erst bekamen wir im Rahmen eines Buchprojekts, in dem zwei Rezepte von uns auftauchen, die Bitte der Lektorin, eine genaue Zutatenliste samt grammgenauen Angaben zu erstellen. Der Leser, hieß es, benötige dies. Wir glauben: Tut er nicht.

 

Dass man beim Kochen auf das eigene Gefühl vertrauen darf, scheint vielen gar nicht in den Sinn zu kommen

 

Das Schöne an der Essenszubereitung ist doch gerade, wie bei allem Selbermachen, dass man Subjekt und nicht Objekt der Arbeit ist. Man entscheidet selbst. Was soll man auch groß als Geheimformel für das Gelingen einer Sache angeben, als: Mach so, wie es dir gefällt? In italienischen Rezepten liest man hinter den Zutatenangaben oft den Ausdruck Quanto basta oder einfach nur die Abkürzung q.b. Was auch oft die Entgegnung vieler italienischer Großmütter auf die Frage nach grammgenauen Mengenangaben für ein bestimmtes Rezept ist. Soviel wie nötig halt. Der Hinweis auf das Vertrauen auf die eigene Intuition ist immer richtig. Schon allein aufgrund der banalen Tatsache, dass der eine mehr, der andere weniger Salz in seinem Essen wünscht.

 

Kochen ist keine Hausaufgabe aus dem Chemieunterricht mit genauem Rezept

 

Ich finde es so witzlos wie Malen nach Zahlen, mich beim Kochen penibel nach Zutatenliste und Mengenangaben zu richten, mit aufgeschlagenem Kochbuch in der Küche zu stehen und alle 15 Sekunden nachschauen zu müssen, ob ich noch richtig liege in meinem Vorgehen. Kochen ist für mich Meditation und Entspannung und keine Hausaufgabe aus dem Chemieunterricht. Mir reicht es, bei der Lektüre eines Kochbuches die Bilder anzusehen, die Titel der Rezepte zu lesen und die Zubereitungsschritte zu überfliegen. Die besten Kochbücher von allen sind mir Speisekarten von Restaurants. Man muss nur einmal durch die Straßen Mailands gehen und an den Türen der Restaurants das jeweilige Angebot studieren. Man geht mit mindestens 453 Ideen nach Hause!

Das Geheimnis eines gutes Essens ist seine Seele und die entsteht, in dem man ein Stück der eigenen hineingibt. Darüber muss man gar nicht lang grübeln, es geschieht von allein, wenn man beim Kochen nur ein wenig auf sich selbst vertraut.

Der Beweis? Ganz egal, wie strikt man ein Rezept befolgt, es folgt so oder so der Moment des finalen Abschmeckens. Und genau hier geschieht der Zauber, hier entlarvt sich das Rezept als das, was es in Wahrheit ist: kein Gesetz, sondern eine freundliche Handreichung, der man mit der nötigen Lässigkeit und dem nötigen Mut zur eigenen Variation begegnen sollte. Wem das zu esoterisch klingt, gehe einmal in die Kochbuchabteilung eines großen Buchladens und vergleiche in verschiedenen Kochbüchern die Rezepte für ein und dasselbe Gericht: Völlig unterschiedliche Angaben. Handelt es sich nicht gerade um extrakomplizierte Backrezepte aus der Konfiserie, darf man sich beim Kochen meist so benehmen, wie man das grad für richtig hält.

 

Die besten Lebensmittel der Welt sind entstanden, weil irgendwas komplett schief gegangen ist

 

Natürlich braucht es Übung und Erfahrung und eine gewisse Grundkenntnis in der Küche, um guten Gewissens drauf los zu kochen. Aber wer sich zum absoluten Sklaven und Hörigen irgendwelcher Mengenangaben macht, gibt auch den Mut auf, Neues zu entdecken. Das Vage war schon immer die Formel echter Innovation. Weil es Freiraum bietet. Sowohl den Freiraum zu scheitern als auch den Freiraum alles neu zu erfinden. Die besten Lebensmittel sind entstanden, weil irgendwas schief gegangen ist. Die Milch im Keller vergessen, den Traubensaft auf dem Dachboden. Und das sind noch die harmlosesten Missgeschicke in der Geschichte der berühmtesten Delikatessen der Welt.

 

Der Mut zum Kochen ohne Rezept bedeutet die Verminderung von Krisenangst im Kleinen

 

Meine These lautet ja auch: Der Mut zum rezeptlosen Kochen bedeutet die Verminderung von Krisenangst im Kleinen. Wer weiß, dass er in der Lage ist, auch ohne Anleitung hervorragend zu kochen, weil er sich auf sein Erfahrungswissen, seinen Geschmack, seine eingebaute Waage verlassen kann, der hat schon mal was, das ihm keiner mehr nehmen kann.

Der Designer Otl Aicher schreibt in seinem – übrigens sehr empfehlenswerten – küchenarchitektonischen Buch Die Küche zum Kochen: „Der Mensch ist ein selbstgesteuertes Wesen, das Selbstgemachtes herstellt und die Eigenbeobachtung benutzt. (…) Es geht dem Menschen nicht nur seine Selbstverwirklichung verloren und damit sein Selbstwertgefühl und seine Selbstachtung, wenn er nur Tätigkeiten verrichtet, die ihm von anderen auferlegt werden.“ Aicher bezieht sich dabei zwar aufs heimische Kochen allgemein, seine Worte lassen sich aber auf die Unabhängigkeit von der grammgenauen Rezeptangabe in der Küche genauso gut anwenden: Auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, macht selbstbewusst.

Einer meiner liebsten Momente beim Kochen mit Freunden oder Familie ist übrigens der, wenn mich jemand fragt, ob ich bitte mal abschmecken möge. Klar, der Mensch will schließlich gebraucht werden! Ich nehme eine Löffel, probiere wie gebeten und strenge mich sehr an, kraft meiner Geschmacksnerven genau das zu analysieren, was jetzt noch fehlt – das steht nämlich selten im Rezept. Ebenso gern bitte ich andere um diese Form des guten Rats, wenn ich am Herd stehe. Was für ein magischer Moment, wenn es jemandem gelingt, die fehlende Zutat vorauszusagen. Was für ein erhebender Moment, wenn man selbst es ist. Endlich mal Anlass, ohne Vorbehalte an die eigenen Fähigkeiten zu glauben. Auf diesen Moment kann man doch nicht freiwillig verzichten.