Verpackung

Die Verpackung

Verpackungen sind eine über Jahrhunderte perfektionierte, angewandte Kunstform. Wollen wir dieses Kulturgut langfristig wirklich aufgeben, zugunsten einheitlicher Behältnisse, die mit kleinen Pappschildern versehen sind, auf denen nichts weiter als ihr Inhalt und ihre Herkunft steht?

Von Juri Gottschall

In München hat vor ein paar Tagen der erste verpackungsfreie Supermarkt eröffnet, in bester Lage und ganz zeitgemäß durch Crowdfunding finanziert. Knapp 50.000 Euro haben optimistische Internetmenschen gespendet und damit die Komplettrenovierung eines ehemaligen Gummibärchenladens ermöglicht, in dem es jetzt fast alles für den täglichen Bedarf, aber ohne eine einzige Verpackung geben soll.

Das ist eine schöne Vorstellung, denn auf der Welt wird zu viel Müll produziert. Wer das nicht glaubt, muss nur mal an einem durchschnittlichen Nachmittag in einen Mülleimer in der Innenstadt gucken, der vor lauter Kaffee-Pappbechern mit Plastikdeckeln fast überläuft. Deshalb ist es sicher gut, wenn man seinen Kaffee öfter mal aus der Tasse trinkt (schmeckt auch besser), seine Plastiktüten mehr als einmal oder noch besser gar keine benutzt und stattdessen seinen Einkauf im Pappkarton nachhause trägt. Um das zu verstehen, muss man kein Umweltaktivist sein. Es ist nicht kompliziert und fühlt sich intuitiv richtig an.

 

Wäre nicht der Verzicht auf Verpackungen auch der Verzicht auf Markenvielfalt, Herkunftsvielfalt und letzten Endes auf Verbrauchertransparenz? Viele Eigenschaften also, die gerade die elitäre Öko-Zielgruppe der innerstädtischen Biosupermärkte hochhält?

 

Was sich hingegen trotz des lobenswerten Grundgedankens komisch anfühlt, ist die Auswahl und Präsentation der Produkte in besagtem verpackungsfreien Supermarkt, der eigentlich eher ein kleines Lebensmittelgeschäft ist. Denn all das, was normalerweise einen Supermarkt auszeichnet und diesem übrigens auch seinen Namen verleiht: eine riesige Auswahl, verschiedenste Produkte aus aller Welt und nicht zuletzt auch die schiere Größe, findet man hier nicht. Im sogenannten „Ohne“-Supermarkt (ob das ein griffiger Name mit großer Zukunft ist, darf bezweifelt werden) gibt es vor allem: Getreide, Nudeln, Mehl, Hülsenfrüchte und andere trockene Grundzutaten in großen transparenten Glasbehältern, aus denen sich jeder etwas in sein mitgebrachtes, präferiertes Transportgefäß abfüllen kann. Sollte man dieses mal nicht dabei haben (zum Beispiel, weil man spontan einkaufen geht und zufällig keine leere Glasflasche in der Handtasche liegen hat) gibt es vorsorglich auch noch teure Marmeladengläser zu erwerben, um das verpackungsfreie Mehl sicher und ökologisch korrekt nachhause zu transportieren.

Mal abgesehen davon, dass das Papier, in dem Mehl oder Haferflocken normalerweise verpackt werden, sicher nicht unser Hauptproblem hinsichtlich der überbordenden Müllproduktion ist, nimmt dieser Laden mit seinem fast schon kommunistisch anmutenden Versorgungskonzept dem Einkaufserlebnis vor allem eines: Die Vielfalt. Ist es nicht gerade eine der größten Errungenschaften des Supermarkts (oder auch des Feinkostladens oder sogar des Tante-Emma-Ladens), dass es dort Erzeugnisse verschiedenster Produzenten, verschiedenster Herkunft und verschiedenster Qualitäts- und Preisklassen gibt? Das bedeutet Wahlfreiheit, bewahrt uns vor vereinheitlichender Nahrungsbeschaffung und regt uns zu konsumtechnischen Experimenten an. Wie schön ist es, vor dem Supermarktregal aus fünf verschiedenen Herstellern von Tomatenmark wählen und sich immer für das entscheiden zu können, mit dem man die besten persönlichen Erfahrungen gemacht hat. Oder das das schönste Etikett hat. Oder das beste Rezept auf der Rückseite der Nudelpackung. Wäre nicht der Verzicht auf Verpackungen auch der Verzicht auf Markenvielfalt, Herkunftsvielfalt und letzten Endes auf Verbrauchertransparenz? Viele Eigenschaften also, die gerade die elitäre Öko-Zielgruppe der innerstädtischen Biosupermärkte hochhält? Die Kulturpraxis des Einkaufens bedeutet doch nicht zuletzt auch Horizonterweiterung, die Entdeckung von Farben, Formen, Namen, Varianten.

 

Letztlich ist die Produktvielfalt auch eine Frage guter Küche: mir reicht eine einzige Mehlsorte nicht zum Zubereiten verschiedener Mehlspeisen oder Teigwaren, mir reicht unter Umständen noch nichtmal dieselbe Mehlsorte von zwei verschiedenen Produzenten

 

In Verpackungen sollte überhaupt mehr gesehen werden als nur ihr Verpackungszweck. Sie sind eine über Jahrhunderte perfektionierte, angewandte Kunstform, die beim kunstvoll gestalteten Orangenpapier anfängt und bei der Camembert-Schachtel aus Pappelholz noch lange nicht aufhört. Sollen, oder besser: wollen wir dieses Kulturgut langfristig wirklich aufgeben, zugunsten einheitlicher Behältnisse, die mit kleinen Pappschildern versehen sind, auf denen nichts weiter als ihr Inhalt und ihre Herkunft steht? Auch da wären wir wieder bei der Transparenz: Dann möchte ich doch auch wissen, wie ein Produkt angeliefert wird und wo es herkommt. Erst recht, wenn ich hier immer noch deutlich mehr Geld für meine Lebensmittel bezahlen soll als überall anders. Letztlich ist die Produktvielfalt auch eine Frage guter Küche: mir reicht eine einzige Mehlsorte nicht zum Zubereiten verschiedener Mehlspeisen oder Teigwaren, mir reicht unter Umständen noch nichtmal dieselbe Mehlsorte von zwei verschiedenen Produzenten. Und das ist nur ein Beispiel unter vielen.

 

Die Farbe des Butterpapiers aus Frankreich, die grelle Tüte komischer Süßigkeiten, die mir Freunde aus Japan mitgebracht haben. Das Shampoo aus Italien, dessen Gebrauchsanweisung ich jeden Morgen unter der Dusche auf seiner viel zu bunten Verpackung lese und mich dadurch immer ein bisschen wie im Süden fühle

 

Verpackungen haben außerdem einen emotionalen Wert, den es zu bewahren gilt. Sie prägen sich als Bilder in unsere Köpfe und sie verbildlichen Gefühle mit Erinnerungen. Fast jeder kennt das Gefühl, im italienischen Supermarkt endlich die erste Dose Lemon-Soda zu entdecken. Erst dann kann der Urlaub beginnen. Wegen dieser Erinnerungen hebe ich Verpackungen oft sogar bewusst auf. Die Farbe des Butterpapiers aus Frankreich, die grelle Tüte komischer Süßigkeiten, die mir Freunde aus Japan mitgebracht haben. Das Shampoo aus Italien, dessen Gebrauchsanweisung ich jeden Morgen unter der Dusche auf seiner viel zu bunten Verpackung lese und mich dadurch immer ein bisschen wie im Süden fühle. Und auch abgesehen vom Urlaub: Wie schön sind in Seidenpapier verpackte Pralinen? Oder ganz extrem: Die Brillo-Packungen, die Andy Warhol seinerzeit ins Museum gebracht hat. Ganze Künstlerkarrieren basieren auf bunten Konservendosen.

Keine Frage: Niemand braucht einzeln eingeschweißte Bananen, Gurken oder Äpfel, die auf Styroportellern im Kühlregal auf Käufer warten und dabei mehr Verpackung als Produkt sind. Auch auf vorgewaschene Salate in Plastikbeuteln lässt sich leicht verzichten. Aber das ist, genau wie der Kaffee im Gehen, doch eher ein kulturelles als ein Verpackungsproblem. Sicher ist es für jeden von uns gut, sein Konsumverhalten zu überdenken und sicher können Läden wie der verpackungsfreie Supermarkt auch einen Teil dazu beitragen. Meine Liebe zur gut gemachten Verpackung hat der Besuch dort eher wieder befeuert. Denn die Vielfalt, die Farbigkeit, die Kreativität, mit der uns Verpackungsgestalter auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten beglücken und nicht zuletzt die Benutzung von Markennamen und – ja – die freie Markwirtschaft wären ein Verlust, der unseren Alltag und unsere Küchen jeden Tag ein bisschen weniger schön machen würde.