Virtù Teramane

Virtù Teramane

Wag bloß nicht, ihn Minestrone zu nennen, sagt man in Teramo, der Hauptstadt des Virtù in den Abruzzen. Denn die Spezialität steht für sich.

Von Juri Gottschall

Ein schönes, wenn auch leicht wahnsinnig anmutendes Ritual für den 1. Mai ist dieser Gemüseeintopf aus den Abruzzen. Man vereint die Speisekammerreste des Winters mit dem ersten frischen Frühlingsgemüse und isst in großer Gemeinschaft. So feiert man den Übergang der Jahreszeiten und allerlei gute Tugenden und Gebote.

Traditionell besteht er aus nicht weniger als 49 Zutaten und wird über drei Tage hinweg in inniger Hingabe zubereitet und gekocht. Selten findet man Rezepte, die Mengenangaben für weniger als 30 Menschen bieten.

Ob in Zeiten der Vereinzelung auch eine Art Individual-Virtù für weniger als 30, möglicherweise für zwei bis vier Personen möglich ist, oder ob es dann kein Virtù mehr wäre, darüber kann man streiten.

Immerhin: Viele Haushalte in den Abruzzen kochen am 1. Mai ihren ganz eigenen Virtù, je nach Verfügbarkeit und persönlichem Geschmack mehr oder weniger angelehnt an das sogenannte Originalrezept (das es wie so oft eigentlich gar nicht gibt). Die Gemüse-, Pasta- und Fleischauswahl des Virtù also variiert, die Zubereitungszeit ebenfalls. Die Zutatenliste am Ende dieses Textes ist so frei zu interpretieren wie das gesamte Rezept.

 

Traditionell besteht der Virtù aus nicht weniger als 49 Zutaten

 

Allerdings stiftet die Bezeichnung Eintopf für den Virtù hier auch schon Verwirrung, denn wenngleich kurz vor dem Servieren alle Zutatengruppen in einem Topf zusammenfinden, sollten sie vorher teils separat gegart werden.

Hier gilt, wie immer in der Küche: Mitdenken muss sein. Die Gemüsesorten mit der längeren Kochzeit zuerst und länger garen, die mit der kürzeren Kochzeit kürzer und zuletzt.

Was die Zusammenstellung des enthaltenen Fleischs angeht, werden traditionell die unbeliebteren Teile verwendet, Schweinefuß, Schweineohren, aber auch Schweinebauch, Rohschinken, und in manchen Fällen auch Fleischklößchen aus Rinderhack.

Beliebt ist es auch, einige der Zutaten wie die Zucchini oder Artischocken durch Mehl zu ziehen und zu frittieren, ehe man sie kurz vor dem Servieren der Suppe untermischt oder nur noch darüberstreut. Der Virtù ist kein Primo, kein Secondo, sondern ein Hauptgericht ohnegleichen, man isst am 1. Mai nur den Virtù, davon aber gern so viele Portionen wie möglich.

 

29. April, am Nachmittag

Alle getrockneten Hülsenfrüchte außer den Linsen gut abspülen und in Wasser einweichen.

 

30. April, am Nachmittag

Schweinefuß und andere »Reste«-Teile des Fleisches mit Sellerie, Karotte und Zwiebel und einem aus Lorbeer, Salbei und Rosmarin gebundenen Kräuterstrauch für die Fleischbrühe gut 2 bis 3 Stunden lang in reichlich gesalzenem Wasser auskochen. Die eingeweichten Hülsenfrüchte abgießen und je nach auf der Packung angegebener Kochzeit in ungesalzenem Wasser separat gar kochen. Linsen nun ebenfalls kochen.

Alles Blattgemüse sorgfältig waschen, fein schneiden und in gesalzenem Wasser kurz blanchieren, dann noch etwas in Olivenöl und Knoblauch in der Pfanne braten. Herausnehmen, abkühlen lassen und abgedeckt bis zum nächsten Tag kühl stellen.

Die frischen Hülsenfrüchte und alles restliche Gemüse in kleine Stücke schneiden, in Salzwasser blanchieren, herausnehmen, abkühlen lassen und bis zum nächsten Tag abgedeckt kühl stellen.

Kichererbsengroße Fleischklößchen aus dem mit Ei, Pecorino und Muskatnuss gemischten Rinderhack formen und in kochendem Wasser garen. Mit der Schaumkelle aus dem Wasser heben, abkühlen lassen und abgedeckt kühl stellen.

Soll frische Eierpasta verwendet werden, frische Eierpasta vorbereiten, gut mehlen und ebenfalls abgedeckt kühl stellen.

Die Fleischbrühe nach der mehrstündigen Kochzeit durch ein Sieb abgießen, abkühlen lassen und kühl stellen. Kräuterstrauß und Gemüse entsorgen.

Die zerkochten Fleischteile auf ein Schneidebrett heben, falls sie nicht ohnehin längst vom Knochen gefallen sind, vom Knochen lösen und fein hacken. Knochen entsorgen, fein gehacktes Fleisch abdecken und kühl stellen.

Falls nicht alles in den Kühlschrank passt: Alle vorbereiteten Zutaten können auch bei kühlerer Zimmertemperatur abgedeckt bis zum nächsten Tag stehen gelassen werden oder über Nacht auf der Terrasse oder dem Balkon warten.

 

1. Mai, am Vormittag

 

Alle vorbereiten Zutaten bereitstellen, nun beginnt die große Vermählung. In einem großen Suppentopf ein Soffritto aus Karotte, Sellerie und Zwiebel in Olivenöl braten. Den fein gewürfelten Schweinebauch und Rohschinken dazugeben. Leichte Röstaromen entwickeln lassen, dann mit einer Kelle Fleischbrühe ablöschen.

Jetzt nach und nach bei sanfter Hitze unter Rühren alle vorbereiteten Zutaten ergänzen, die robusten Zutaten zuerst, die empfindlichsten zum Schluss. Mit den Hülsenfrüchten und dem klein geschnittenen Kochfleisch beginnen, und zu jeder ergänzten Zutat etwas köchelnde Brühe hinzufügen. Was die Flüssigkeitszufuhr angeht, immer bedenken: Der Virtù ist ein dickflüssiger Eintopf, er sollte nicht zu wässrig werden. Gegen Ende erst das Blattgemüse einrühren. Dann die frischen Kräuter.

Soll zum Servieren noch frittiertes Gemüse ergänzt werden, nun entsprechende Teile parallel frittieren. Außerdem Salzwasser aufsetzen und darin die trockene Pasta garen und in den Eintopf geben.

Dann die frische Pasta in Salzwasser garen und ebenfalls hinzufügen. Einige machen sich die Mühe und fertigen unter Beigabe von färbendem Gemüsemus frische Pasta Tricolore für den Virtù, die dann in Form von Maltagliati oder Rauten geschnitten wird. Es gibt auch Rezepte, in denen zusätzlich sogar noch gefüllte Pasta ergänzt wird. Ganz zum Schluss die Fleischbällchen und das frittierte Gemüse einrühren.

 

Zutaten
Hülsenfrüchte: Borlotti-Bohnen, getrocknet Cannellini-Bohnen, getrocknet Kichererbsen, getrocknet Linsen, getrocknet Favabohnen Frisches Gemüse: Erbsen, Grüne Bohnen, Artischocken (z. B. Carciofi Sardi), Spinat, Mangold, Karotten, Endivie, Brennnessel, Gänsedistel oder Löwenzahn, Zucchini Borretsch, Mönchsbart, Tomaten, Fenchel, Stangensellerie, Zwiebel, Knoblauch Fleisch: Schweinefuß, Schweinebauch, Rohschinken Für die Fleischklößchen vom Rind: Rinderhack, Ei, Pecorino, Muskatnuss Gewürze: Olivenöl Extra Vergine, Lorbeer, Salbei, Rosmarin, Wilder Fenchel, Dill, Thymian, Anis, Majoran, Basilikum, Muskatnuss, Nelken Optional: Pasta mista, Pasta fresca, Pasta ripiena