Michele Martinelli

„Wenn du ein Restaurant leitest, wirst du zwangsläufig zum Psychologen“

Wir haben mit dem Koch Michele Martinelli über die drei Säulen gesunden Erfolgs, über Karriere, Familie und über den Mut zur Sesshaftigkeit gesprochen.

Von Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall

Etwa 20 Kilometer südlich von Livorno liegt ein kleines Dorf namens Nibbiaia. Es leben hier nur wenige hundert Einwohner. Dass sich hier seit zehn Jahren auch ein Lokal von internationalem Rang befindet, ist in einem Land wie Italien glücklicherweise kein Widerspruch: die Locanda Martinelli ist das Restaurant von Evelyn und Michele Martinelli.

Bevor die Martinellis sich hier mit ihrer Tochter niederließen, reisten sie zwischen Jordanien, Russland, Ägypten und Südfrankreich hin und her. Denn dort kochte Michele als Privatkoch für diverse Königsfamilien und große Unternehmer. Als 2006 ihre Tochter auf die Welt kam, wurde den beiden klar, dass das Jetset-Leben mit Baby nicht mehr funktioniert. Sie entschieden sich für die Selbstständigkeit und für die Sesshaftigkeit in der italienischen Heimat. Mit Erfolg: In diesem Jahr feiert sein Lokal zehnjähriges Bestehen.

Wir haben Michele Martinelli zum Interview getroffen. Herausgekommen ist ein Gespräch über die drei Säulen gesunden Erfolgs, die Schwierigkeit, Karriere und Familie zu vereinen und das Glück, in demselben Haus zu arbeiten, in dem man auch lebt.

 

Erinnerst du dich noch an den Moment, in dem du entschieden hast: Ich werde Koch?
Ja, ich muss etwa 13 Jahre alt gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt musst du in Italien entscheiden, auf welche weiterführende Schule du gehen willst. Ich hatte dieses kleine Buch zur Berufsberatung in der Hand und da stand drin, dass man zwei bis drei Mal in der Woche in der Schule essen wird, wenn man auf die Hotelfachschule geht. Super, habe ich mir gesagt, das machst du! Da kriegst du wenigstens mal was Frisches zu essen.

Das gab es zuhause nicht?
Nie. Bei uns gab es immer nur Fastfood. Meine Eltern hatten eine Färberei und haben den ganzen Tag gearbeitet, von früh bis spät. Sie hatten keine Zeit zu kochen. Sie hatten aber ehrlich gesagt auch keinen Bock. Das weiß ich, weil meine Mutter heute durchaus Zeit hätte zu kochen. Sie tut es trotzdem nicht.

 

„Meine Eltern hatten keinen Bock zu kochen.“

 

Gerade einmal zehn Jahre nach dieser Entscheidung, mit 23, hast du bereits in internationalen Sterne-Restaurants gearbeitet und bist als Privatkoch für eine saudiarabische Königsfamilien engagiert worden.
Ich bin in Massa geboren und in Massa auf die Hotelfachschule gegangen. Danach erst einmal ins Ausland zu gehen, war selbstverständlich. Wer ernsthaft in der Gastronomie arbeiten will, muss Sprachen lernen und Kulturen verstehen. Meine Frau, die ich auf der Hotelfachschule kennengelernt hatte, wollte auch raus und ging mit mir nach Deutschland. Wir arbeiteten zuerst in Stuttgart in der Speisemeisterei, damals ein Zwei-Sterne-Lokal. Sie im Service, ich in der Küche. 

Danach gingt ihr nach Paris.
Jeder gute Koch muss einmal im Leben in Paris gearbeitet haben, das sehe ich bis heute so. Später arbeiteten wir im Schlosshotel Bühlerhöhe im Schwarzwald. 

Dort engagierte dich der saudische Prinz.
Er war Gast im Hotel, ich bekochte ihn und daraufhin mietete er mich als Privatkoch. Erst für einen Monat, dann für seine Reisen durch ganz Europa.

Wie ist es für eine Königsfamilie zu kochen?
Man wohnt in den besten Hotels der Welt und fliegt im Privatjet. Aber man muss ständig zur Verfügung stehen, Tag und Nacht kochen, wenn das gewünscht ist. Jeden Abend musste ich also für die gesamte Entourage, 20 bis 25 Personen, in einer Suite ein Buffet aufbauen. Den Prinzen musste ich zusätzlich gesondert bekochen und auch persönlich bedienen. Und zwar immer dann, wenn ihm danach war.

 

„Das späteste Dinner habe ich an einem Vormittag um elf Uhr serviert.“

 

Wann war ihm denn danach?
Meist mitten in der Nacht. Während seine Gefolgschaft zu recht normalen Zeiten zu Abend aß, aß er sein Dinner erst irgendwann zwischen Mitternacht und Mittag des Folgetages. Meistens so gegen drei, vier oder fünf Uhr morgens. Sein spätestes Dinner habe ich ihm an einem Vormittag um elf Uhr serviert. 

Der jordanischen Königin wiederum musstest du jeden Tag etwas Neues kochen, das Menü durfte sich nie wiederholen.
Und ich durfte sie auch nicht vorher fragen, worauf sie Appetit hat. Ich musste selbst darauf kommen.

Wie macht man das?
Mit einer Mischung aus Analyse und Intuition. Ich überlegte: Was habe ich ihr am Vortag serviert und wie hat sie es benotet? Sie gab mir Noten für jedes Gericht, ließ mir nach jedem Essen eine kleine schriftliche Anmerkung zukommen. Außerdem hörte ich mich beim Personal um, informierte mich über ihre tagesaktuelle Laune und Befindlichkeit. So ging das jeden einzelnen Tag. Ziemlich anstrengend. Aber auch eine gute Schule. Ich habe noch heute über 600 dieser Menükarten zuhause, die sie nach dem Essen mit einer handschriftlichen Bewertung versehen hat.

Du hattest mit gerade einmal Anfang Zwanzig als Küchenchef schon weit über 30 Köche unter dir. Woher kanntest du dich mit Führungsqualitäten aus?
Ein bisschen was hatte ich mir von den großen Häusern abgeschaut, in denen ich vorher gearbeitet habe. In Jordanien kam die Schwierigkeit hinzu, dass ich Köche aller Nationalitäten im Team hatte. Türken, Libanesen, Malayen, Italiener, Franzosen. Weil ich mittlerweile gut englisch, deutsch, italienisch und französisch sprechen konnte, ging die Kommunikation ganz gut. Das Problem war meine interkulturelle Inkompetenz. Ich habe gleich zu Beginn einen riesigen Fehler begangen.

Welchen?
Ich habe meine teils streng religiösen Köche nicht während ihrer Arbeitszeit beten lassen. Meine Einstellung war: In der Küche gehts ums Kochen und sonst um nichts. Ich wollte und konnte nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die ihre Arbeit unterbrechen, um zu beten. Ich war zu jung und habe es ihnen verboten. Damit habe ich mir die Beziehung zu meinem Team gleich zu Beginn ruiniert. Irgendwann sah ich meinen Fehler ein, aber es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis meine Köche mir verziehen hatten. Das war schlimm.

Bist du selbst in Küchen mit hartem Umgangston sozialisiert worden?
Teilweise ja. Es geht nun einmal hektisch zu in einer großen Küche, das ist so. Der Druck ist hoch. Erst mit der Zeit habe ich gelernt, dass es kontraproduktiv ist, noch mehr Druck zu machen.

 

„Wer gestresst ist, arbeitet schlecht, das ist immer so.“

 

Wie geht es besser?
Stress vermeiden. Wer gestresst ist, arbeitet schlecht, das ist immer so. Egal wie viele Gäste draußen warten, das Miteinander muss freundlich bleiben. Du kennst die Geschichten von Spitzenköchen, die sich umbringen. Oder alkohol- und drogenabhängig werden. Diese Köche sind wie eine schöne Villa, die kurz nach Bau wieder zusammenkracht, weil ihr Fundament so schlecht ist. Es gibt drei Sachen, die wichtiger sind als beeindruckende Lebensläufe, kommerzieller Erfolg und handwerkliche Perfektion.

Welche?
Neugier, innere Ruhe und Ausdauer. Da sind die wahren drei Säulen von gesundem Erfolg. Wenn die stehen, und wenn du sie pflegst, kommt der Rest von allein. Aber ohne diese drei Sachen wirst du es nicht schaffen. Vielleicht wirst du erfolgreich, hast aber nichts davon, weil du zu krank bist, um es zu genießen. Wenn es dir nicht gut geht, bringt es dir nichts, dass du gut kochst.

 

„Es gibt drei Sachen, die wichtiger sind als beeindruckende Lebensläufe, kommerzieller Erfolg und handwerkliche Perfektion.“

 

Mit Ende 20 hast du dem Leben als Privatkoch den Rücken gekehrt und in Italien dein eigenes Restaurant eröffnet. Warum?
Wir waren irgendwann nur noch unterwegs. Ich arbeitete heute hier, morgen da. Das ging gut, so lange meine Frau mich überallhin begleiten konnte und wir zusammen arbeiten konnten. Nach meiner Zeit in Jordanien arbeiteten wir für das Königshaus in Luxemburg, dann für einen russischen Milliardär und einen Schweizer Financier. An einigen Tagen kochte ich mittags in Moskau und abends in Cap d’Antibes. Das war sehr anstrengend, und als 2006 unsere Tochter geboren wurde, wurde es zu anstrengend.

Ihr konntet das Baby nicht überallhin mitnehmen.
Meine Frau und meine Tochter zogen in unser Ferienhaus in Nibbiaia an der toskanischen Küste. Ich kam nur noch alle zwei, drei Monate nach Hause – um sofort wieder aufzubrechen. Wenn Kinder klein sind, entwickeln sie sich sehr schnell. Einmal kam ich zurück, da konnte meine Tochter plötzlich sprechen. Ich verpasste Kindergarten-Aufführungen. Ich war immer der Vater, der fehlte. Wenn ich zum Flughafen fuhr, weinte sie. Kennt ihr den Film „Click“?

Nein.

Adam Sandler spielt darin einen Workaholic, dessen Karriere auf Kosten seines Privatlebens geht. Er kommt in den Besitz einer magischen Fernbedienung, mit der er sein ganzes Leben nach Belieben vor- und zurückspulen kann, aber das geht natürlich nicht lange gut. Ich sah den Film eines Nachts in einem russischen Hotelzimmer und dachte: Das bin ich. Ich verpasse mein Leben, meine Familie.

 

„Wir arbeiten viel, aber das ist nicht mehr schlimm, denn wir arbeiten zuhause und sind so immer zusammen.“

 

Du hast gekündigt und bist sesshaft geworden.
Ich habe das Haus gekauft, in dem heute das Restaurant ist. Wir haben es renoviert und oben unsere Wohnung eingerichtet, und unten das Restaurant. Ich als Koch, meine Frau im Service. So hat unsere Tochter uns immer in der Nähe. Wir arbeiten viel, aber das ist nicht mehr schlimm, denn wir arbeiten zuhause und sind so immer zusammen.

Es war also die richtige Entscheidung.
Absolut. Aber es war auch hart. Es ging nur, weil genügend Erspartes da war. Wenn ich zurückblicke, kommt es mir noch immer wahnsinnig vor. Heute hätte ich sicher nicht mehr den Mut und die Kraft, so etwas zu machen. 

Was war das Härteste?
Das Restaurant in einem dermaßen kleinen Ort wie Nibbiaia zu eröffnen. 200 Einwohner. Keine große Stadt in der Nähe. In Mailand, Rom oder Florenz hätte ich es einfacher gehabt. Dazu kam: Ich hatte nach 17 Jahren im Ausland keine Freunde mehr. Und auch keine Beziehung zu lokalen Journalisten, die mir hätten helfen können. 

Die ersten Jahre habt ihr keinen Cent verdient.
Nur abbezahlt und von Reserven gelebt. Aber durch gute Mundpropaganda sind die Gäste Jahr für Jahr mehr geworden. In diesem Jahr feiern wir zehnjähriges Jubiläum und es läuft sehr gut.

Wie habt ihr euch motiviert, die harten Anfangsjahre durchzuhalten?
Ich weiß es nicht. Wir waren mutig. Oder naiv. Oder einfach verrückt.

Reden wir über deinen Kochstil.
Ich bin keiner, der radikal auf chilometro zero (Anm. d. Red.: lokal angebaute Lebensmittel) setzt, dafür ist mein Küchenstil zu international. Trotzdem verwenden wir viel aus der Region. Meine Frau geht jeden Morgen spazieren und sammelt, was sie im Wald und auf den Wiesen findet. Je nach Saison. Wilder Spargel. Blüten. Früchte, Beeren, Wildkräuter. Pilze. Wilder Salat. Eine meiner liebsten lokalen Spezialitäten ist eine Art wilde Pflaume. Man kann sie nicht roh essen, aber eingelegt ergibt sie einen sehr guten Likör.

Ich habe aber auch immer Pata Negra auf der Karte, aus Spanien. Nicht den Schinken, sondern einen anderen Teil des Fleisches. Ein Freund von mir hat eine eigene Zucht in San Sebastián. Er schickt mir das Fleisch. Ich koche es 15 Stunden lang, dann brate ich es. Außerdem machen wir natürlich viel mit Fisch, wir leben schließlich am Meer. Und ohne Foie Gras komme ich auch nicht aus, meine Großmutter war Französin, bei ihr gab es immer Foie Gras.

Du bist auch Olivenöl-Spezialist. In deinem Lokal gibt es eine ganze Olivenöl-Karte, du bist zertifizierter Olivenöl-Verkoster und 2015 zum Oliveoil chef of the year gekürt worden.
Das habe ich alles Ricardo Cappellini zu verdanken, er ist für mich einer der großen Pioniere der neuen Spitzenöl-Bewegung und einer der größten Im- und Exporteure für Spitzenöle weltweit. Wohnte er nicht in meiner Nähe, könnte ich keine so große Auswahl an Ölen in meinem Restaurant bereithalten. Durch ihn und Gino Celletti, einer der größten Experten zum Thema bin ich überhaupt erst auf den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Olivenöl aufmerksam geworden.

Du hast außerdem einen alkoholfreien Aperitif entwickelt. Wie kam es dazu?
Fermentation ist ja im Moment überall, und natürlich hat mich das auch interessiert. Ich fand die Idee eines Genussprodukts, das gleichzeitig gesundheitsförderlich ist, sehr spannend. Ich wollte ein Getränk machen, das wir in unserem Restaurant als leichten Aperitif servieren können und das aber auf keinen Fall so sauer und streng ist wie Kombucha. Mir schwebte etwas Leichtes, Elegantes, voller Kräuter vor, voll von toskanischem Flair. Meine Frau und ich taten uns dafür mit einer lokalen erborista, einer Kräuterkundlerin zusammen.

Es hat etwa zwei Jahre lang gedauert, bis wir die perfekte Mischung und Rezeptur raushatten. Man kann es erstaunlich universal kombinieren, es passt hervorragend zum Käse, zu Taube, zu Ente, zu Foie Gras, zur Nachspeise. Die Gäste waren so begeistert, dass sie es uns gleich flaschenweise abkaufen wollten. So entstand die Idee, die Produktion zu vergrößern.

Folgt ihr damit auch dem Bedürfnis einer neuen Generation nach antialkoholischen Alternativen zur Weinbegleitung?
Auch das. Ich denke aber auch an Märkte wie die Arabischen Emirate, wo ja – zumindest offiziell – kein Alkohol getrunken wird.

Du arbeitest jetzt seit gut 30 Jahren in der Gastronomie. Was hast du in all den Jahren in über Menschen gelernt?
Sowohl als Privatkoch, als auch wenn du ein Restaurant leitest, wirst du zwangsläufig zum Psychologen. Du musst die Leute auf Anhieb durchschauen und ihnen geben, was sie brauchen oder wünschen. Jeder Mensch ist anders. Es passieren merkwürdige Dinge. Nicht nur Sonderwünsche. Auch Unglücke, Unfälle. Jemand fällt vom Stuhl, bekommt einen Anfall. Und du musst immer Ruhe bewahren und so tun, als hättest du das schon tausend Mal erlebt, als sei es ganz normal und als wüsstest du, was jetzt zu tun sei. Im Restaurant müssen die anderen Gäste zusätzlich noch das Gefühl haben, es sei gar nichts weiter passiert und sie könnten entspannt weiter essen. Egal, wie beängstigend eine Situation ist: Man darf nie in Panik verfallen. Das beherrsche ich mittlerweile sehr gut.