Berlendis Slow Food

„Du musst einfach nur vernünftig einkaufen“

Slow Food setzt sich seit Jahren für den Erhalt kulinarischer Traditionen und die Biodiversität ein. Ein Interview mit Lorenzo Berlendis, dem Vizepräsidenten von Slow Food Italia.

Von Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall

Vor zwei Wochen waren wir mal wieder in Brescia, der kleinen Stadt in Norditalien, die für viele zwischen Bergamo, Mailand und Verona eher ein Schattendasein fristet. Bei vergangenen Besuchen fielen auch uns immer nur die vielen verlassen und kaputt wirkenden Vororte auf, ein paar Hochhäuser, einige sehr beeindruckende, aber zugleich auch bedrückende Bauten aus der Zeit des Faschismus und eine recht hübsche piazza della loggia, auf der eine alte Halle mit einem verwitterten Kupferdach sowas wie den Mittelpunkt der Stadt markiert. Außerdem beherbergt diese Stadt eine einzige vollautomatisch fahrende U-Bahn-Linie.

Ende Juni findet in Brescia das alljährliche Slow-Food Festival  „Brescia con gusto“ statt, und dann ist die ganze Stadt für einen Abend im Rausch.

Denn Brescia ist ja nicht nur eine italienische Kleinstadt, sondern liegt auch noch mitten in der Lombardei. Einer Region, die für ihre Küche sogar innerhalb Italiens berühmt ist und einige der größten kulinarischen Spezialitäten des Landes hervorgebracht hat. Genannt seien hier beispielhaft nur der Gorgonzola, der Grana Padano, der Franciacorta und vor allem all die anderen unzähligen Käsespezialitäten aus den umliegenden Bergdörfern, die in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit unvergleichlich sind. Nicht umsonst war die östliche Lombardei erst im Jahr 2017 regione europea della gastronomia.

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Was sich an diesem heißen Sommerabend in der Innenstadt abspielt, ist tatsächlich ein Fest. Ein Fest des Essens. 30 verschiedene Gastronomen und Köche bieten auf der Straße, in Restaurants, in Hotels oder Kaufhäusern regionale Spezialitäten an.

Man flaniert durch die Stadt, vom Steinboden steigt die Hitze des Tages auf, und überall kann man essen. Und trinken. Und von Dachterrassen über die Stadt blicken. An jeder Ecke spielt Musik, in alten Steinbrunnen liegen gekühlte Weinflaschen und es begegnen einem unzählige, glückselig strahlende, nimmersatte Menschen. Jeder hat ein Weinglas um den Hals gehängt, mit dem er von Station zu Station spaziert und es zu jedem Gang wieder auffüllen kann. Immer mit einer neuen flüssigen Berühmtheit aus der Region, immer passend zum jeweils an dieser Station angebotene Essen. Nie ist der Begriff Festival passender als an diesem Abend.

Am Rande der Veranstaltung am 24. Juni sprachen wir mit Lorenzo Berlendis, dem Vizepräsidenten von Slow Food Italia, der uns zwischen Aperitif und primo piatto etwas über die Grundsätze von Slow Food und unsere Bedeutung als Konsumenten in einer von der Lebensmittelindustrie dominierten Welt erklärte.

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Herr Berlendis, was findet heute Abend in Brescia statt?

„Brescia con gusto“ findet dieses Jahr schon zum 16. Mal statt. Essen ist Genuss, Freude, Gemeinschaft – all das soll dieses Festival abbilden. Die Menschen sollen zusammen essen und feiern. Außerdem sollen die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen lokalen Produzenten und Gastronomen gefördert werden. Man kann sich in der gesamten Stadt von einem gastronomischen Betrieb zum nächsten bewegen und essen. Es gibt vier Menü-Routen zur Auswahl. Jede Route hält alles zwischen Aperitif bis Eis und Kaffee bereit, am Ende der Nacht hat man also ein gesamtes Menü gegessen. Und alle Stationen haben natürlich auf die ein oder andere Weise mit Slow Food zu tun. Entweder sind die Betreiber Mitglieder unserer Gemeinschaft oder sie haben eine besondere Sensibilität für deren Themen.

Wie kann man das Konzept von Slow Food kurz für jemanden zusammenfassen, der es noch nicht kennt?

Slow Food ist eine in Italien gegründete, internationale Gemeinschaft, die vor allem den Schutz der globalen Biodiversität fördern möchte. Unser Slogan lautet: gut, sauber und gerecht. Heißt, dass wir die Selbstverständlichkeit gesunder Ernährung fördern möchten, uns für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzen und ein Bewusstsein für die Absurditäten der globalen Lebensmittelproduktion schaffen möchten.

Besonders wichtig ist es uns, die kleinen Produzenten zu schützen und zu fördern. Sie sind es, die gut drei Viertel des Planeten ernähren. Ihre Arbeit und ihre Produkte müssen wieder im Wert steigen. Nicht nur in Italien und Europa sind die kleinen Produzenten in große Schwierigkeiten geraten. Sie können mit den niedrigen, von der Industrie vorgegebenen Preisen nicht mehr mithalten. Aber wir brauchen sie, denn es sind die Kleinen, die den Respekt vor den Traditionen der regionalen Landwirtschaft und dessen Biodiversität pflegen. Und ohne Biodiversität sind wir verloren.

Wie sind Sie persönlich zu Slow Food gekommen?

Ich komme aus einem kleinen Verein, der sich mit den Problemen meiner Heimatregion rund um Bergamo beschäftigt. Es war für mich nur logisch, mich in der Folge dieser Arbeit mit Slow Food zu befassen. Nur dort habe ich die Antworten auf meine komplexen Fragen gefunden. Essen ist ja eben nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern ein ganzer Kosmos – Gesundheit, Wohlbefinden, Umwelt, Geschichte, Geografie, Soziales, einfach alles. Hinter unserer Ernährung steckt so viel mehr, als die meisten Menschen glauben. Leider denken noch immer zu wenige Leute darüber nach, was und wie sie einkaufen.

 

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Was kann man als Einzelner denn tun, um die Situation zu verbessern?

Das ist ja der Witz daran: Es ist überhaupt nicht schwer. Du musst kein Aktivist werden und auch kein Politiker. Du musst einfach nur vernünftig einkaufen. Was du auf deinen Tisch stellst, verändert bereits die Welt. Wenn du dieses eine lokale Bier statt dem importierten kaufst, oder dieses eine Brot statt jenem, weil du weißt, dass das eine fairer und vor Ort produziert wurde, änderst du schon unglaublich viel. Hinter jedem Produkt, das wir kaufen, steht eine Wirtschaftskette. Durch unseren Einkauf allein betreiben wir aktive Politik. Heißt: Hochwertige Produkte kaufen, lokale Produkte kaufen, die am besten noch biologisch oder biologisch-dynamisch erzeugt wurden. Das schützt die Erde, die Luft und das Wasser. Das ist wichtig. Unsere Ressourcen sind nicht unendlich.

Aber so einfach ist es nicht immer. Wenn man zum Beispiel in einem Restaurant isst und nicht weiß, wo das Essen her kommt, oder in Supermärkten oder auf Produkten keine Angaben zur Herkunft findet…

… das ist richtig. Und Abkommen wie das TTIP werden das noch schwerer machen, weil die Zutaten dann noch viel unkontrollierter von überall herkommen werden, obwohl sie auch vor der Tür wachsen könnten. Eine unserer Säulen bei Slow Food ist deshalb auch die Bildung der Konsumenten, damit diese sowohl über die Produktion von Lebensmitteln – also: wie wird Olivenöl hergestellt, was zeichnet ein gutes Öl aus etc. – als auch über die groben Martkmechanismen Bescheid wissen und so bewusst und anspruchsvoll wie möglich wählen können. Übrigens nicht nur bei ihrem täglichen Einkauf oder beim Besuch eines Restaurants, sondern auch in Krankenhäusern, Kantinen und Schulen. In diesen Bereichen der Massenverpflegung gibt es so gut wie keine Kontrollen, weil immer das Produkt gewinnt, das am billigsten ist. Aber welche Qualität ist denn da in dem billigsten Kram? Essen ist unsere Medizin, wir füttern unseren Körper damit, da sollten wir keine Kompromisse eingehen. Wird aber immer wieder getan. Und die gesundheitlichen Folgen der schlechten Ernährung zahlen wir dann wiederum mit unseren Steuern. Es ist absurd. Genau diese Probleme bewegen das Tun von Slow Food.

Gerade in Italien gibt es viele Konsortien und Gütesiegel. Was sagen die über die Qualität der Produkte aus?

Es ist gut, dass es Siegel wie zum Beispiel DOC, DOCG und DOP gibt. Die strengen Kontrollen dieser Vereinigungen haben die Qualität von Lebensmitteln in der Vergangenheit enorm ansteigen lassen. Das ist ein guter Anfang, aber leider genügt das noch längst nicht. Der Biodiversität etwa hilft das nicht besonders. Wir haben zu diesem Zweck die „Arca del Gusto“, die Arche des Geschmacks, eingeführt. Sie schützt Produkte aus kleiner, regionaler Erzeugung. Inzwischen haben wir weltweit fast 4000 solcher Lebensmittel in die Arche aufgenommen und schützen damit ihre Kultur, Geschichte und Tradition auf der ganzen Welt. Auch das ist wie ein Siegel, es schafft Sicherheit für den Kunden.

Was essen Sie selbst am liebsten?

Obwohl ich aus der eher bergigen Region um Bergamo komme, liebe ich Fisch. Aus dem Meer und natürlich auch Süßwasserfische. Ich liebe die Zubereitung, aber neuerdings auch das Angeln selbst. Ich habe schon die ein oder andere anständige Bachforelle gefangen.

Haben Sie ein Lieblingsrestaurant?

Am liebsten esse ich in Restaurants, die eine innovative, moderne Küche anbieten, die aber die Tradition der lokalen Saisonküche nicht vernachlässigen. Und ich liebe Pizza. Es entwickelt sich in Italien gerade eine neue Generation von Pizzabäckern, die die Tradition der Pizzakunst auf ein neues Level heben. Sie benutzen hochwertigere, vollwertigere Mehle und arbeiten mit extrem langen Gehzeiten des Teiges. Es gibt immer mehr fantastische Pizza mit Sauerteig oder Mutterhefe. Diese Rezepte machen den Teig leichter und besser verdaulich und letzten Endes auch gesünder. Auch der Pizzabelag wird immer häufiger aus Tomaten von Produzenten gemacht, die die Regeln der Nachhaltigkeit respektieren. Es ist schön zu sehen, dass da etwas passiert und die Leute ihr Bewusstsein für diese Dinge stärken.

Und wenn Sie selbst kochen?

Dann gibt es meistens Fisch. Oder Risotto in seinen verschiedensten Erscheinungsformen. Je nach Saison mit Kürbis, mit Thymian und Stracchino, oder mit Safran und Lakritz. Müsste ich mich für ein einziges Gericht entscheiden, wäre es ganz klar immer das Risotto. Wenn ich es eilig habe, reicht mir aber auch ein Stück Salami aus Bergamo oder ein frisches Brot mit Stracchino. Immer zusammen mit einem guten Glas Wein.

Wer mehr über Slow-Food wissen will: Hier gibt es ein großartiges Interview mit Slow-Food Gründer Carlo Petrini. Auch sehr empfehlenswert ist Petrinis Buch „Die Wurzeln des guten Geschmacks“.

Weitere Informationen über Slow Food und die Möglichkeit der Mitgliedschaft gibt es auf den offiziellen Seiten des Verbands: 

Slow Food Italia
Slow Food Deutschland

Wer Brescia und seine Umgebung ebenfalls besuchen möchte, dem sei als erste Anlaufstelle ein Besuch der Website des örtlichen Tourismusverbandes ans Herz gelegt. Bresciatourism informiert über die Möglichkeiten der Region und listet empfehlenswerte Restaurants und Hotels.

BRESCIATOURISM SCARL
Via Einaudi 23, 25121 – Brescia
Camera di Commercio, Industria e Artigianato di Brescia – 5° piano
Tel. +39 030 3725403

info@bresciatourism.it

Vielen Dank an Bresciatourism für die Unterstützung bei der Arbeit an diesem Artikel.