Es muss Mitte der 90er-Jahre gewesen sein, als sich zu der obligatorischen Weißweinessig-Flasche in vielen deutschen Haushalten eine Flasche dunkelbraunes, fast schwarzes Zeug dazugesellte. Aceto Balsamico di Modena stand drauf, „Balsamico“ wurde es genannt und galt ab sofort als der bessere Essig. Der Essig der Italiener, die müssen es ja wissen. Außerdem war da der Klang dieses Wortes, Balsamico, das klingt wie Balsam, nur wohltuender und fröhlicher, man denkt an Kräuter und Heilung, Tinktur und Pipette, kostbar und selten. Es muss so 2002 gewesen sein, da gesellte sich noch ein kleineres, aber dickeres Fläschchen dazu, drin war dickflüssige, zuckerrübensirupartige „Balsamico-Creme“ zum Teller-Verzieren und über Erdbeeren träufeln.
Ein Elixier, tiefschwarz
Seinen guten Ruf hat der sogenannte Balsamico einem Produkt zu verdanken, das nur die wenigsten kennen. Dieses Produkt heißt mit vollem Namen Aceto Balsamico tradizionale di Modena. Dieses kleine Wörtchen, tradizionale, ist es, das den ganzen Unterschied macht. Dahinter verbirgt sich ein Elixier. Tiefschwarz und dickflüssig, von einer geschmacklichen Dichte und Präsenz, die mit kaum einem anderen Lebensmittel zu vergleichen ist. Ein Aceto Balsamico tradizionale di Modena unterliegt einer völlig anderen Herstellungsweise als das Produkt, das sich in den Supermärkten mit dem Großteil seines Namens schmückt. Und viel strengeren Kontrollen. Vor allem braucht er, was heute niemand mehr hat. Zeit. Viel Zeit. Sehr viel Zeit. Ein Tradizionale reift über Jahrzehnte. Nichts kann den Vorgang beschleunigen.
Von unter einem Euro bis hin zu 50 Euro für 250 Milliliter
Doch zuerst zu dem, was sich Aceto Balsamico di Modena nennt und mittlerweile überall zu finden ist, vom Billigdiscounter bis zum Feinkostladen. Von unter einem Euro bis hin zu knapp 50 Euro können 250 Milliliter des scheinbar ein- und desselben Produktes kosten. Auf allen steht das gleiche: Aceto Balsamico di Modena I.G.P, beziehungsweise g.g.A.. In Deutschland spricht man von der „geschützten geografischen Angabe“. Und daneben, als sei es eine Garantie für Transparenz und Qualität: das blaue-gelbe Siegel der EU.
Trauben aus China
Um diese Art von Aceto Balsamico zu gewinnen, wird gekochter Traubenmost mit günstigem Weinessig vermischt. Die Mikroorganismen im Weinessig starten die Fermentation, nach 60 Tagen ist der Aceto Balsamico fertig. Das EU-Siegel schreibt nur wenig vor: Ein einzelner Produktionsschritt muss in den italienischen Provinzen Modena oder Reggio Emilia stattgefunden haben – was das im Detail heißt, bleibt aber Auslegungssache. Festgeschrieben ist nur, dass mindestens 20 Prozent des Traubenmosts aus Trauben italienischer Rebsorten gewonnen sein muss. Wo diese tatsächlich angebaut werden und wo die restlichen 80 Prozent herkommen und wie und wo diese verarbeitet wurden ist nicht vorgeschrieben. Der Essig muss außerdem 60 Tage in Holzfässern gelagert werden.
Um die Farbe schöner zu gestalten, wird meist noch etwas Zuckercouleur zugegeben, ein nicht unproblematischer Stoff, der im Verdacht steht, Krebs zu erregen und deshalb in manchen US-amerikanischen Staaten nur noch mit entsprechenden Warnhinweisen verwendet werden darf. Die EU erlaubt ihn zur „Stabilisierung der Farbe“. Nach der Herstellung wird der Essig von offizieller Stelle überprüft und bekommt dann, nach frühestens zwei Monaten, das EU-Siegel. Selbst wenn die verwendeten Trauben aus China stammen und die Abfüllung in Spanien stattgefunden hat, ist der Essig per Definition ein Aceto Balsamico di Modena I.G.P beziehungsweise g.g.A., solange er zumindest in Modena ein Holzfass von innen gesehen hat.
Die typische Landschaft der Hügel um Modena
Das Original ist so etwas wie Gold
Was in der kleinen dicken Flasche drin ist, auf der „Balsamico-Creme“ draufsteht, hat mit Modena oder einem echten Aceto Balsamico meist gar nichts mehr zu tun. Drin sind irgendein Traubenmostkonzentrat, Zuckercouleur und diverse Verdickungsmittel.
Sprechen wir also über das Original. Das Original ist so etwas wie Gold. Niemals steht es in irgendeinem Restaurant einfach so auf dem Tisch. Wenn überhaupt, serviert man es tröpfchenweise. Um es zu begreifen, muss man sich auf eine Reise nach Modena oder das benachbarte Reggio Emilia begeben und eine der zahlreichen Acetaias besuchen. Sich auf den Dachboden dieser Acetaia führen lassen. Einatmen. Hinschauen. Und verkosten. Wer sich unter einer Acetaia eine großindustrielle Produktionsanlage vorstellt, liegt übrigens falsch. Meist handelt es sich um kleine Bauernhöfe, die zum Nebenerwerb oder aus purer Leidenschaft noch ihren Tradizionale produzieren. Allen gemein ist die fast schon an Wahnsinn grenzende Liebe zu ihrem Produkt.
In einer Acetaia riecht man die Zeit
Betritt man den Dachboden einer solchen Acetaia, ist da zuerst dieser Geruch. Essig, aber tiefer als das. Essig, aber süßer als das. Honig? Schärfer. Altes Holz. Heiße Sommer, kalte Winter. Die Atmung verändert sich. Die Atemzüge werden tiefer. Die balsamische Luft flutet die Lungen, flutet den Körper. Ein Glücksgefühl stellt sich ein. Der Körper begreift, worüber der Geist sich noch wundert: das hier ist Medizin. Das hier ist Weisheit. Das hier grenzt an Alchemie. Der Geruch ist auch: Zeit. Es ist wahr, aber auf dem Dachboden einer Acetaia riecht man die Zeit.
Eine lange, stille Reise
Dann erblickt das Auge die schwarzen Fässer. Immer fünf nebeneinander. Auf einigen stehen Vornamen und Geburtsdaten. Viele sind undicht, aus ihnen tropft es auf kleine Teller. Sie verlieren nicht viel. Alle paar Monate ein Tropfen. Hier oben unter dem Dach wird es im Sommer brütend heiß und im Winter eiskalt. Die idealen Bedingungen für die Reifung des Aceto Balsamico Tradizionale. Unten auf dem Hof, mit Blick auf die Weinhänge, nimmt sie ihren Anfang. Nach der Ernte der reifen, sehr zuckerhaltigen Traubensorten Trebbiano, Sauvignon und in manchen Gegenden auch noch Lambrusco, wird der Traubenmost mindestens zwölf Stunden über offenen Feuer und unter freiem Himmel in riesigen Kupferkesseln gekocht. Bis er auf ungefähr die Hälfte der Menge und einen Zuckergehalt von über 30 Prozent reduziert ist.
Das pure Mostkonzentrat kann man übrigens in jeder Acetaia unter dem Namen Saba für wenig Geld kaufen und ebenfalls in der Küche zum Würzen verwenden. Zur Weiterverarbeitung zum Tradizionale allerdings wird es in mannsgroße, 100 Liter fassende Eichenholzfässer abgefüllt. Nach einer definierten ersten Reifezeit, die jede Acetaia anders gestaltet und die familiären Traditionen folgt, tritt der Traubenmost seine lange, stille Reise durch die sogenannte Batterie an.
Der komplizierte Prozess der Entstehung in einer Acetaia
Jahrhunderte alte Batterien
Eine Batterie ist eine festgelegte Reihenfolge von Holzfässern aus verschiedenen Holzarten in verschiedenen Größen. Das größte fasst 60 Liter, das kleinste Fass nur noch zehn. Viele Batterien sind Jahrhunderte alt, genau wie die Essigbakterien, die in ihrem Inneren leben und dafür sorgen, dass aus nichts als gereiftem Traubenmost nach vielen Jahren Essig wird. Neue Batterien sind selten. Meist werden sie vererbt und neugeborenen Familienmitgliedern zur Geburt geschenkt.
Kein Fass wird repariert, das würde dem Essig schaden. Lieber ein Tellerchen drunter stellen. Ist ein Fass arg beschädigt, wird ein neues Fass um das beschädigte Fass herum gebaut. Wird eine neue Batterie aufgestellt, wurde sie zumindest zum Teil aus sehr altem Holz gefertigt oder mit bei benachbarten Acetaias eingekauften gebrauchten Fässern bestückt. Die Fässer haben oben eine bauklotzgroße viereckige Öffnung, die zum Schutz nur mit einem zarten Leinentuch zugedeckt ist. In Modena legt man als Gewicht noch einen Stein aus dem nahegelegenen Fluss Panaro darauf. Esoterik? Vielleicht. Man sagt, ohne den Stein sei der Geschmack nicht derselbe.
In den heißen Sommern verdunstet durch diese Öffnung das Wasser aus dem Traubenmost, während sich in den kalten Wintern der Zucker konzentriert. Außerdem erhalten die Essigbakterien den für sie so wichtigen Sauerstoff, den sie für ihre Arbeit brauchen. Jedes Jahr wird aus dem großen Mutterfass eine definierte Menge Traubenmost in das größte Fass der Batterie zugegeben, aus dem wiederum etwas in das nächst kleinere Fass abgefüllt wird, dort weiterreift und dabei das spezielle Aroma des Holzes in sich aufnimmt. Dieser Zyklus wiederholt sich für alle Fässer bis hin zum kleinsten.
Die Stadt von Ferrari und Maserati
Die Reifetraditionen für den Aceto Balsamico tradizionale di Modena unterscheiden sich von Acetaia zu Acetaia. Nach mindestens zwölf, idealerweise aber rund 25 Jahren, kann aus dem kleinsten Fass jeder Batterie eine sehr geringe Menge Essig entnommen werden. Diese wird an ein Konsortium, das Consorzio Tutela Aceto Balsamico di Modena, eingesandt, wo die Probe nach verschiedensten optischen und geschmacklichen Gesichtspunkten beurteilt wird. Erst ab einer bestimmten Gesamtpunktzahl, die sich aus Kriterien wie Dichte, Süße, Säure, Farbe, Geschmack und unzähligen anderen Punkten zusammensetzt, wird der Essig abgefüllt, darf sich Tradizionale nennen und erhält das ebenfalls von der EU vergebene rot-gelbe D.O.P-Siegel (in Deutschland g.U., „geschützte Ursprungsbezeichnung“, genannt).
Man unterscheidet zwei Qualitäten, die mindestens zwölf Jahre gereifte und die mindestens 25 Jahre gereifte „extra vecchio“. Die Abfüllung erfolgt stets nur in kleinen 100 Milliliter Flaschen. In Modena, der Stadt von Ferrari und Maserati, sind diese vom berühmten italienischen Industrie- und vor allem Autodesigner Giorgio Giurgiaro gestaltet. In Reggio Emilia haben sie eine charakteristische Tulpenform.
Die Frage, woher die Essigbakterien stammen, kann niemand beantworten
Das Verrückte ist: dem Tradizionale werden zu keinem Zeitpunkt seiner Produktion Zusatzstoffe beigefügt. Kein Zucker, kein Farbstoff, kein Weinessig. Die Frage, woher die Essigbakterien in den alten Holzbatterien ursprünglich stammen, kann niemand mehr beantworten. Klar ist nur, dass sie sich irgendwann im 12. Jahrhundert in Holzfässern angesiedelt haben. Und dass sie fest in der Region verwurzelt sind. Alle Versuche, einen Aceto Balsamico tradizionale nach der gleichen Methode in anderen Gegenden herzustellen, schlugen fehl.
Der Tradizionale lässt sich nie vollends erklären. Er wird von seinen Herstellern deshalb wie ein heiliger Organismus behandelt, ein altehrwürdiger Mitbewohner des Hofes, ohne den alles verloren wäre. Er reproduziert sich selbst, aber nur, so lange man gut auf ihn achtet und Schädlinge von ihm fern hält.
Die charakteristische Flasche des Aceto Balsamico Tradizionale di Modena D.O.P.
Wer hätte vor 25 Jahren schon ahnen können, wie hoch der Bedarf der Welt an Aceto Balsamico einmal sein würde?
Und wie alles was gut und selten ist, hat ein Tradizionale seinen Preis. 100 Milliliter bekommt man ab 80 Euro aufwärts. Aber auch Flaschen für 500 Euro sind keine Seltenheit. Bedenkt man, dass aus anfangs 100 Kilo Trauben nach 25 Jahren Arbeit nur zehn Fläschchen Tradizionale übrig bleiben, relativiert sich dieser Preis schnell.
Wer hätte vor 25 Jahren schon ahnen können, wie hoch der Bedarf der Welt an Balsamico einmal sein würde? Als die Trauben geerntet wurden, die wir heute in unserem Essig finden, war die Welt noch eine andere. Das Internet war noch nicht erfunden und Michael Jackson gab noch Konzerte. Es hat etwas Magisches, darüber nachzudenken, welchen Weg ein Lebensmittel hinter sich hat.
Zu verschwenderisch damit umgegangen, macht unglücklich. Zu sparsam eingesetzt macht aber auch unglücklich!
Tradizionale serviert man tröpfchenweise, so pur wie möglich. Über Parmigiano Reggiano zum Beispiel, der anderen lang gereiften und nicht minder berühmten Spezialität der Region. Es gibt kaum eine Acetaia, die nicht zum Probieren den Parmigiano Reggiano des Nachbarn bereithält. Aber auch frische Erdbeeren oder Vanilleeis gehören zu den klassischen Partnern des Tradizionale. Auch in seiner richtigen Verwendung steckt metaphorisch betrachtet die Formel guter Lebenskunst: zu verschwenderisch damit umgegangen, macht unglücklich. Zu sparsam eingesetzt macht aber auch unglücklich! Deshalb: niemals nur so wenig nehmen, dass man am Ende doch nichts davon hatte.
Für den Einsatz im Salat allerdings ist er zu schade. Den machen selbst die Besitzer einer Acetaia nur mit einem einfachen, jungen, dünnflüssigen Aceto Balsamico an, sie nennen es dann aber: Condimento. Und da sie auch dies selbst herstellen, kommt es ohne Zuckercouleur und Trauben zweifelhafter Herkunft aus. Allerdings empfiehlt einem jede Acetaia-Besitzerin auch, unter das normale Salatdressing einfach ein wenig Tradizonale zu mischen. Katapultiert das Dressing in eine andere Dimension.
Gute Qualität für jeden Tag
Manche Acetaias stellen neben dem Tradizionale und einem eigenen Condimento noch unterschiedliche Qualitäten her, die zwischen dem „echten“ und dem Supermarktprodukt angesiedelt sind. Sie produzieren diesen Essig nach der Methode des Tradizionale, lassen ihn aber nur wenige Jahre reifen. Manche fügen auch dem weniger ausgereiften Produkt einen Teil echten Tradizionale hinzu und heben so die Gesamtqualität. Diese Essigvarianten sind eine gute Möglichkeit, gute Qualität für jeden Tag zu bekommen ohne immer auf das Spitzenprodukt angewiesen zu sein. Sie sind geschmacklich jedem durchschnittlichen Essig überlegen, kommen aber natürlich nicht an einen echten Tradizionale heran. Dafür kosten sie aber auch nur einen Bruchteil. Für 20 bis 50 Euro pro 250 Milliliter lassen sie sich in guten Lebensmittelgeschäften finden. Sie sind dickflüssig und süß und auch nicht zu schade, um sie im Salat zu essen.
Ein guter, normaler Aceto Balsamico
Wer auf einen angemessenen Preis achtet und in der Zutatenliste an erster Stelle „Traubenmost“ und nicht „Weinessig“ findet, hat gute Chancen, auf ein ordentliches Produkt zu stoßen. Und das ist es dann. Das ist dann ein guter, normaler, Aceto Balsamico di Modena, der seinen Namen verdient. Das ist das Produkt, von dem der weltberühmte Modeneser Koch Massimo Bottura spricht, wenn er sagt, seine Muskeln seien aus Parmigiano Reggiano und in seinen Adern fließe Balsamico.